“Ich möchte gern ein Mädchen”

Langsam versinkt der Tag. Die ersten Straßenlaternen brennen bereits. Vor dem geschlossenen Fenster ihrer Wohnung im Haus Nummer 11 stehen Peter und Karin. Sie beobachten die Leute auf der Straße.

"Ich möchte gern ein Mädchen", sagt sie. “Sie sind so niedlich. “Nein, nein, es wird ein Junge war werden. Mädchen bereiten soviel Kummer und Sorge!”- Karin scheint nicht zuzuhören. Sie lächelt und ihr Gesicht spiegelt sich in der Fensterscheibe. “Es wird bestimmt ein Mädchen werden”, beharrt sie. “Ich werde ihr so hübsche Kleidchen kaufen, dass sich die Nachbarn nach ihr umdrehen.”

Peter antwortet nicht. Er zuckt nur die Achseln, denn er "weiß", dass es nur ein Junge sein kann. Er wünscht sich so sehnlichst einen Stammhalter. Seine Frau hingegen denkt nur an “ihr" Mädchen. Sie sieht es schon zur Schule gehen, verlobt, verheiratet. Karin verzieht das Gesicht: Sie sah sich soeben bereits als Großmutter. Aber dann lächelt sie wieder: Ihr Kind ist ja noch nicht einmal geboren.
“Sieh einmal, wer da unten vorbeigeht", ruft plötzlich Peter. - "Wer denn?”- "Meine Eltern" sie runzelt die Stirn. “Es war schön allein." ¬Peter tut, als habe er ihre letzte Bemerkung nicht gehört. Er freut sich über diesen unverhofften Besuch und verbirgt es nicht". Wir werden diese Flasche Portwein öffnen”. "Ich möchte sie lieber für eine bessere Gelegenheit aufheben”, protestiert sie. Und außerdem bin ich müde!” Er will zur Tür gehen. "Wohin gehst du?" – “Öffnen natürlich"
"Wir hatten es so gemütlich zusammen allein”, mault sie. Es war so schön, in deiner Gegenwart Zukunftspläne zu schmieden. Nun kommen deine Eltern und verderben unsere Traulichkeit.” "Du übertreibst” – “Nein”, du hast es ja selbst gesagt, du wirst die Flasche Wein öffnen. Dann müssen wir sie zum Abendbrot einladen. Und ich bin doch so müde. Sie werden reden und schwatzen. Ich will nicht kritisieren, aber du weißt es ja selbst: Deine Mutter kann stundenlang lang reden, ohne etwas bedeutungsvolles ausgesprochen zu haben."

Zögernd entfernt er sich wieder von der Tür und kehrt an das Fenster zu seiner Frau zurück. "Die Alten wollen uns einen Besuch abstatten”, sagt er. “Du irrst dich. Sie haben einen kleinen Spaziergang gemacht und kamen zufällig in unsere Gegend. Dabei haben sie sich dann gesagt: Weil wir gerade einmal hier sind, können mal kurz bei den Kin¬dern reinschauen."
Peter ist immer noch nicht überzeugt. “Was können wir tun?" Sie lächelt schelmisch und legt die Hand auf den Mund. "Wir bleiben hier stehen und rühren uns nicht. Sie glauben dann, wir seien nicht zu Haus und gehen wieder fort." "Aber das ist keine schöne Art..."

Schließlich gibt Peter nach und verhält sich auch ruhig. Es klin¬gelt. Man rührt sich nicht. Ein zweites kurzes Klingeln - dann hören sie, wie sich die Schritte entfernen. Vom Fenster aus beobachten sie, wie die Eltern davon gehen.

“Ich weiss nicht, warum du unbedingt darauf bestehst, einen Jungen zu bekommen. Die Mädchen sind doch viel netter. Sieh dir dieses Foto von mir an, als ich klein war. “Doch Peter lässt sich nicht beeinflussen. ”Ich möchte lieber einen Jungen haben.” – “Warum denn bloß?”- “Ich weiss nicht – vielleicht weil ich selbst einer bin!” – “Ja, das ist ein Grund.” Sie schweigen.
Peter will sie in die Arme nehmen, doch sie stößt ihn zurück. Plötzlich sieht er auf die Straße und stößt einen Schrei aus. “Welch ein Unglück!” – “Was ist? Kommen deine Eltern zurück?” –“Nein, es sind diesmal deine Eltern! Es scheint, als ob sie sich verabredet hätten, uns heute abend alle zu ärgern. “Was können wir tun”, seufzt Karin. Peter glaubt, sie hätte ihm eine Frage gestellt und antwortet: “Wir verhalten uns so, wie du es wolltest!”
“O nein. Dazu besitze ich nicht den Mut. Es ist übrigens etwas anderes: Deine Eltern sind zu uns gekommen, weil sie sich zufällig in unserer Nähe befanden. Meine Eltern dagegen wohnen ja am Stadtrande und sind extra gekommen, um uns zu besuchen. Wir können sie nicht wieder fortschicken. Geh, öffne die Portweinflasche.”

Karin ist schon zur Tür geeilt, noch bevor Peter etwas erwidern kann. Er vernimmt die Stimmen seiner Schwiegereltern und die seiner Frau. Man setzt sich zu Tisch und erzählt. Peter ist nicht sehr nachtragend, aber er bemerkt, dass seine Frau gar nicht mehr so müde ist, wie sie vorhin sagte. Sie rennt hin und her und serviert Abendessen. Die Gläser sind geleert, man hört noch etwas Musik. Und als die Eltern dann fortgehen, sind sie überzeugt, dass im Haushalt ihrer Tochter das Glück zu Hause ist.

Das junge Ehepaar ist wieder allein. Sie sehen auf die Straße – jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. – “Mama täuscht sich selten. Sie meint, dass wir ein Mädchen bekommen werden!” – “Du wünscht dir also wirklich ein Mädchen, nicht wahr?” – “Welche Frage. Natürlich. Ich habe es doch schon hundertmal wiederholt.”

Er trinkt den letzten Schluck Wein und sagt dann nachdenklich: “Gut. Einverstanden. Ich will auch ein Mädchen.” – “Wirklich? Du wolltest doch aber immer nur nur einen Jungen haben!”-
“Ja, aber ich habe meine Meinung geändert!” – “Wieso”, fragt sie erstaunt. “Warum denn so plötzlich?”
“Ach weisst du Schatz”, sagt er jetzt langsam mit Betonung: “Ich habe es mir überlegt. Denn ich möchte auch jemanden haben, der mir die Tür öffnet, wenn ich alt bin!!!”

Ilsemarie Straub-Klein

Homepage kostenlos erstellt mit Web-Gear

Verantwortlich für den Inhalt dieser Seite ist ausschließlich der Autor dieser Webseite. Verstoß anzeigen